Die schweren Bergschuhe dehnen die ausgerissenen Henkel der Plastiktüte nach unten, als würden sie ihrem Metier, dem Boden, aus eigener Kraft entgegenstreben und wirken daher in der Hand getragen noch gewichtiger als am Fuße. Das abgenutzte Leder zeugt von treu durchdienten schneenassen Wintern und staubigen Wanderwegen im Sommer. Die Nähte halten es mit der Entschlossenheit, ein weiteres Jahrzehnt lang gute Dienste zu leisten, fest zusammen. Es sind die mürben Sohlen, die diesem Anspruch im Wege stehen, abgerieben durch jeden der Hunderttausende geleisteter Schritte, jüngst versprödet durchs Ultraviolett der Andensonne, und schließlich auf Abstieg von Machu Pichu nach Aguas Calientes so zerfleddert, dass sich ein horizontaler Spalt zwischen Absterben und Ablösung beständig weiter auftut.
Ablösung ist ein gutes Stichwort, denn ein Austausch ist die letzte Hoffnung für die Weiternutzung der noch tauglichen Bestandteile des Gegenstandes, dessen Ende in einem Land hoher Lohnkosten durch die Unwirtschaftlichkeit seiner Reparatur besiegelt wäre. Peru ist kein Land hoher Lohnkosten.
Ich trage die Tüte mit den Schuhen durch die von Marktständen verengte Gasse. Schlängele mich an Metzgern und ihrem Angebot gehäuteter Meerschweinchen, Schweineköpfe und Fleischhaufen vorbei. Da: Es ist das erste Mal, dass ich sehe, wie ein Hund in Verachtung seiner Grenzen Anstalten macht, sich an einem Haufen Steaks zu bedienen, der von der Verkäuferin sogleich mit beiden Armen schützend nach hinten gezogen wird. Hoffentlich rechtzeitig, aber ich bin mir nicht sicher, ob der Hund nicht doch zumindest daran geleckt hat. Die Stimme, mit der sie den Hund verjagt, klingt eher beleidigt als drohend. Der Hund hätte wissen müssen, dass dran zu lecken die Etiquette verletzt. Tatsächlich frage ich mich, was die Hunde dazu bringt, meist erstaunlich diszipliniert an den rohen Verlockungen vorbeizugehen. An den vielen Fliegen stören sie sich bestimmt nicht.
Gemüse. Allerlei Alltagsgegenstände. Irgendwo hier in der Nähe meine ich mal einen Schuster gesehen zu haben. Doch der müsste eigentlich schon bald kommen, sonst habe ich mich vielleicht doch geirrt. Auf meine Orientierung ist eigentlich kein Verlass. Heute klappt es. Gegenüber der Kreuzung weist der Schriftzug „Calzado“ auf das von mir gesuchte Handwerk hin. Die Werkstatt scheint geöffnet zu sein. Beim Näherkommen erblicke ich schon die alten Nähmaschinen im dunklen Innenraum, an der mehrere Schuster bei der Arbeit sind. Einer steht draußen und erblickt mich und den Inhalt meiner Tüte. Kommt mir entgegen und macht mich auf ihn aufmerksam so als sei das noch notwendig. Das ist erfreuliches ein Anzeichen dafür, dass er heute genug Zeit hat. Ausgerechnet jetzt muss ich erst suchen, bevor ich die Stelle finde, an der die Sohle sich falltürähnlich nach unten klappen lässt. Es ist sogar ein Ersatzteil in der passenden Größe vorhanden, nicht von allerbester Qualität, aber immerhin mit tiefem Profil. Ich tausche 20 Soles Vorschuss gegen die Zusage, dass ich die Schuhe bis zum Mittag abholen kann.
In der Markthalle besorge ich am gewohnten Stand einen Laib des gewohnten Goudas. Auf dem Weg zum Treffpunkt mit dem Rest der Truppe kann ich einem Automaten gebührenfreies Bargeld für die nächsten Monate entlocken. Der Treffpunkt ist der touristische Starbucks direkt neben der Kathedrale. Mit meinem Rucksack sehe ich notgedrungen wie ein Tourist aus, so dass der „Barista“ versucht, meine zur Zeitüberbrückung unumgängliche Bestellung Einheitscappucino auf Englisch entgegenzunehmen. Ich weiß gar nicht, warum ich stur auf Spanisch antworte, bis er das sein lässt. Das WLAN ist besser als der Kaffee. Und die Gesellschaft ist besser als das WLAN: Unverabredeterweise stoße ich auf weitere Missionare, die an diesem Wochenende Besorgungen in Cusco erledigen.
Die Vervollständigung der Truppe verzögert sich: Obwohl der Werkstatttermin, zu dem die anderen das Auto bringen sollen, schon seit Wochen feststeht, ist das notwendige Ersatzteil allen Abmachungen zum Trotz nicht auf Lager und es fällt den Mitarbeitern so schwer, das zuzugeben, dass sie eine halbe Stunde dafür benötigen. Glücklicherweise prägt diese Unzuverlässigkeit nicht den Rest des Tages.
Als ich etwa um zwölf komme, um meine Schuhe abzuholen, sehe ich diese schon mit geklebter Sohle bereitstehen. Ich solle mich jedoch noch zehn Minuten gedulden, meint der freundliche Schuster, der noch schnell eine zwischengeschobene Reparatur beendet und dann beginnt, die Sohlen zusätzlich festzunähen. Ich nehme auf einer kleinen gut gefüllten Wartebank Platz und bekomme sogar eine illustrierte Lokalzeitung gereicht. Als ich durch die durch habe, und versuche, über das rückseitige Kreuzworträtsel nachzudenken, reicht er mir sogar einen Kugelschreiber. Nein, es mache ihm wirklich nichts aus, wenn ich es ausfülle. Etwas über die Hälfte der Kästchen ist noch weiß (und würde es wohl auch weiterhin bleiben, solange ich nicht wenigstens zu Übersetzungszwecken das Handy zur Hilfe nehme), als er seine Arbeit auch schon beendet hat. Ich bin mit dem Ergebnis und der Einhaltung des Zeitrahmens äußerst zufrieden und bezahle den Rest der vereinbarten Summe, die dem Gegenwert zweier Paar guter Bergsocken in denjenigen deutschen Outdoorshops entspricht, in denen man über den Vorschlag, Schuhe zu reparieren den Kopf geschüttelt hätte.
Den Rest des Tages verbringen wir damit, in einem Einkaufzentrum Dinge zu kaufen, die nicht so lebensnotwendig sind, dass man sie im Dorf kaufen könnte, die andererseits aber in jeder Großstadt erhältlich sind. Mehr Wäscheklammern, bestimmte Gewürze und andere Kochzutaten. Eine Lichterkette für Weihnachten. Die Welt drinnen hat mit der Welt außerhalb der Mall wenig zu tun und es denken sich hundertfach die gleichen Gedanken: „Oh, hier gibt’s ja XYZ. – Brauche ich das? – Eigentlich nicht, Du kommst ja sonst auch ohne aus. – Aber in Deutschland würde ich es mir einfach kaufen. – Aber es ist schon ganz schön teuer, verglichen mit sonstigen Einkäufen in Curahuasi. Fast so teuer wie in Deutschland. Das ist Verschwendung. Überleg mal, wie lange Du davon in Curahuasi leben könntest!“. Die Tiefkühlmuscheln bleiben im Tiefkühlregal, doch drei(!) kleine Gläser mit Sauerkirschen(!), Nachtisch für die ganze WG, schaffen es in den Einkaufswagen.
Einerseits freue ich mich über die beschafften Dinge, andererseits wäre eigentlich alles auch verzichtbar gewesen, was die zweite, in der konstruierten Welt, die aussieht wie eine aus Glas, Produktauslagen, Werbeflächen und Fastfoodkettenlokalen nachgebaute Webseite, verbrachte Tageshälfte irgendwie verstörend macht.